Dramen einer Reifung swap_horiz

Es gibt Bücher, die sind Bücher. Und es gibt Bücher, die sind eine Tat. Zu diesen zählt das gerade bei Fontis erschienene Werk „Weil ich es will – Homosexualität – Wandlungen – Identität“. Warum? Kein Thema treibt gerade die katholische Moraltheologie heftiger um als Frage einer möglichen Integration von Homosexualität in „gutes Leben“. Christlich kann das nur heißen: in einen Lebensentwurf, der Gott gefällt. Es sind 39 intime Lebensberichte von Betroffenen, die der Sexualwissenschaftler und Theologe Markus Hoffmann mit einem Team von Frauen und Männern zusammengetragen hat, und die man nicht ohne einige Erschütterung aus der Hand legt.

Man erfährt, wie Menschen, die von einer irritierten Sexualität betroffen sind, um Halt, Stand, Liebe und Anerkennung ringen, ohne den gängigen gesellschaftlichen (neuerdings auch kirchlichen) Narrativen zu folgen; freilich tun sie es im Kontext einer authentischen Suche nach Gott. Manche kommen aus einem gläubigen Kontext und kämpfen um eine Vereinbarkeit von Glauben und Leben; andere kommen aus religiös unmusikalischen Kontexten, um überrascht zu werden durch Gott.

Synodaler Weg im O-Ton

Wer im Vorhinein zu wissen meint, was Homosexualität ist, wird mit Verunsicherung durch Wirklichkeit rechnen müssen. Wer gar glaubte, in den Papieren des Synodalen Weges habe die Kirche endlich „Lösungen“ gefunden, wird sich nach der Lektüre des Buches eingestehen, dass er den Simplizismen einer Standarderzählung gefolgt ist – einem Puzzle, das im Grunde aus wenigen Elementen besteht:

1: „Zu jeder menschlichen Person gehört untrennbar ihre sexuelle Orientierung. Sie ist nicht selbst ausgesucht und sie ist nicht veränderbar.“

2. Die „homosexuelle Orientierung“ gehört zum Menschen „wie er*sie von Gott geschaffen wurde“.

Sie ist 3. „ethisch nicht anders zu beurteilen als die heterosexuelle Orientierung.“

4. Gleichgeschlechtliche „auch in sexuellen Akten verwirklichte“ Sexualität vollziehe sich „in Beziehungen, die auf Ausschließlichkeit und auf Dauer angelegt sind ... ist damit keine Sünde, die von Gott trennt.“

5. Wer sich dieser Standarderzählung verweigert, „diskriminiert“; er vergeht sich gegen die menschliche Würde

Soweit Synodaler Weg im O-Ton. Für den, der das Buch gelesen hat, passt nichts mehr zusammen in diesem Puzzle der Liebe. Keiner der fünf Punkte ist ganz falsch und keiner völlig richtig.

Entzauberung einer Standarderzählung

Puzzleteil 1, „... nicht selbst ausgesucht, ... nicht veränderbar“: Im Buch erfährt man, dass sich im internationalen Vergleich „zwischen 1,5 - 2 Prozent der Menschen als ausschließlich homosexuell empfindend“ definieren, aber 4 - 6 Prozent angeben, dass sie zwischen den Polen von „homosexuell“ und „heterosexuell“ changieren. Jeder der Erzählungen im Buch liefert Seite für Seite neue Belege für die Komplexität der Faktoren, unter denen das Leben eines Manns oder einer Frau (mehr Geschlechter gibt es nicht) Gestalt gewinnt. Ob eine Person ihren weiblichen oder männlichen Leib annehmen kann oder mit ihm fremdelt, ihn ablehnt, darin abgelehnt wird oder darin von innen oder außen bestärkt wird – all dies macht das Drama einer Reifung aus.

Die Annahme, eine jenseits des chromosomalen Settings empfundene sexuelle Identität sei in jedem Fall unveränderbar im Menschen angelegt (wie bei einer medizinisch diagnostizierten Geschlechtsdysphorie), sie sei gewissermaßen seine „Natur“ und das Natürliche müsse daher nur in Freiheit ausgetestet werden, damit ein Mann sich mit „Eigentlich bin ich eine Frau“ outet und fortan eine Frau ist, – das kann man getrost unter Wissenschaftsmärchen ablegen.

Tatsächlich kennzeichnen Variabilität und Fluidität das zu sich Finden eines Menschen. Hin- und hergerissen zwischen Anziehung und Abstoßung, Versuchung und Widerstand, Scham und Grenzüberschreitung, Wille und Verstand gewinnen Menschen einen oft genug labilen Stand, den sie sich – allen externen Einflüssen zum Trotz – auch selbst aussuchen. Besonders gravierend ist die pauschale Behauptung einer schicksalhaften Bestimmtheit zur Homosexualität, wenn man an Jugendliche denkt: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein 16-Jähriger, der sich als homo- oder bisexuell bezeichnet, sich bereits ein Jahr später als heterosexuell bezeichnet, ist 25-mal höher, als es für einen heterosexuellen 16-Jährigen wahrscheinlich ist, sich mit 17 als homosexuell zu bezeichnen.“

Jenseits von Eden

Puzzleteil 2 verankert die „homosexuelle Orientierung“ im Himmel. Wie „er*sie“ sich vorfindet – das genau soll der Schöpferwille Gott sein. Die kühne Annahme ist in jeder Hinsicht auf Flugsand gebaut. Wie man anhand der Zeugnisse des Buches hinreichend studieren kann, gibt es nichts Fluideres, nicht Flüchtigeres als die „Orientierung“, also das Gefühl. Darf man hinsichtlich der Identität eines Menschen alle anderen Faktoren, die ihn ausmachen – den Leib, die Chromosomen, die Zellstruktur, die Anatomie – außer Acht lassen? Wie ich mich fühle – das wird dann mit metaphysischen Weihen versehen.

Will Gott auch die promiskuitive Orientierung, um nicht gleich nach der pädophilen Orientierung zu fragen? Wäre alles, was wir erstreben, Schöpferwille Gottes – wir hätten einen bösen Gott. Wir alle finden uns nach dem Sündenfall und jenseits von Eden vor. Unsere Wunden zu verklären und sie zu verewigen, ist schlechte Schöpfungstheologie. Der Blindgeborene ist zwar blind geboren, aber nicht blind geschaffen. Wie alle Menschen ist er für das Licht, gar die Anschauung Gottes bestimmt und wird dahingehend erlöst.

Binäre Anthropologie

Puzzleteil 3 versucht sich an der ethischen Gleichstellung von Homosexualität und Heterosexualität. Gerade an diesem Punkt ist das Buch besonders überzeugend – oder provokant, je nach Standpunkt. Dass ausgerechnet Betroffene die emphatisch vorgetragene Präsenz einer binären Anthropologie in der Heiligen Schrift, das Hohelied der monogamen Ehe und die durchgängige Absage an homosexuelle Praxis annehmen, sich trotzdem von Gott angenommen wissen und differenzierte Möglichkeiten für gutes Leben jenseits von praktiziertem gleichgeschlechtlichem Sex gefunden haben, mag einigen als Hochverrat erscheinen.

Ich lese darin Glauben. Glauben bedeutet ja, sich komplett Jesus anzuvertrauen, mit seinem Wort zu beginnen, es ganz ernst zu nehmen – und von dorther (also vom Anderen seiner selbst) sein Leben zu lesen. Nicht umgekehrt, als dürften wir unsere immer verwirrte momentane Ausgangslage zum festen Standpunkt erklären, um die Bibel dann selektiv darauf hin zu scannen, was uns gefällt, bestärkt, ermutigt, passt.

Könnte das trotzdem wahr sein?

Puzzleteil 4 insinuiert, homosexuelle Praxis vollziehe sich (immer? gelegentlich? häufig?) in Beziehungen, die von Ausschließlichkeit und Dauer geprägt seien, weshalb sie nicht unter dem Aspekt von Sünde zu betrachten seien. Die Wirklichkeit, wie sie sich im Buch widerspiegelt, ist weniger von dem Ideal oder der Fiktion eheanaloger Verhältnisse geprägt, als von einer vielgestaltigen, unsteten Suche nach Annahme und Liebe, auch vom Scheitern dieser Liebesversuche, von der Unerfülltheit, „anders normal“ zu leben, vom Gefühl, permanent etwas zu versuchen, was sich letztlich doch falsch anfühlt. In mehr als einem der biographischen Abrisse im Buch kommt es zu einer tastenden Annäherung an die Lehre der Kirche: „Könnte das trotzdem wahr sein?“

Homophobe Homosexuelle

Was die Sündigkeit von Handlungen angeht, so ist das unter mehreren Aspekten zu betrachten. Sünde ist, was Menschen in klarer Erkenntnis des menschlich und christlich Gebotenen und durch Akte freien Willens vom Guten (und damit letztlich von Gott) abbringt. Das Sechste Gebot ist aus guten Gründen das Sechste und nicht das Erste. Aber den Römerbrief, Vers 1,26-27 als kulturbedingte Verirrung des Apostels Paulus zu betrachten oder das Schriftwort nach Freiburger Art zu entkräften – nach dem Motto: Wir lassen uns von antiken Leuten doch nicht erklären, wie wir heute leben wollen! –, das ist kein Umgang mit dem Wort Gott.

Puzzleteil 5 – „Diskriminierung“ – grenzt alle als homophob aus, die den irrealen Annahmen, wie sie auf dem Synodalen Weg zu Papier gebracht wurden, nicht folgen. Es würde auch bedeuten, dass die 39 Betroffenen, die sich im Buch zu Wort melden, homophobe Homosexuelle wären. Sie haben aber nur eine andere Theorie über ihre Wirklichkeit und nehmen sich das Recht auf ihren eigenen Weg – den Weg eines enthaltsamen, aber erfüllten Lebens. Natürlich gibt es echte Homophobie, nämlich die Verachtung und Nichtannahme von Menschen aufgrund ihrer nichtheterosexuellen Neigung. Soweit das in der Kirche noch vorhanden sein sollte, muss es mit allen Konsequenzen bekämpft werden.

Es schadet mehr

Eines lernt man aus diesem Buch: Das Hissen der Rainbowflag und das Drängen, Drücken, Schieben zu eheanalogen Segensakten schadet den Betroffenen vielleicht mehr, als es ihnen hilft zu einem authentischen Weg mit Gott und einer integren Bewältigung der ganz eigenen Geschichte.


Veröffentlichung der Rezension erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Kath. Wochenzeitung „Die Tagespost“ (©Die Tagespost, 15.10.2023)