Interview zum Buch 'Weil ich es will!' swap_horiz

Was ist das Besondere an diesem Buch „Weil ich es Will“ - Homosexualität - Wandlungen - Identität?

Die Frage ist berechtigt. Denn Bücher, in denen sich Christen zu Wort melden, die ihre nicht-heterosexuellen Empfindungen nicht ausleben wollen, gibt es immer wieder. Das Besondere an diesem Buch aber ist, dass sich hier 39 Stimmen zu Wort melden und dass sie alle ihre gleichgeschlechtlichen Gefühle je anders erleben. Es kommen Menschen zu Wort, die ausschließlich homosexuell empfinden, dann aber auch solche, die ihr sexuelles Empfinden zwischen den Polen Homosexualität und Heterosexualität ansiedeln. Zudem sind die Zeugnisse auf unterschiedliche Fragestellungen oder Lebenslagen bezogen, in denen diese Menschen stehen. Es geht um die Bedeutung des Glaubens, der Kirche genauso, wie um die Fragen, wie man enthaltsam lebt, wie man Freundschaft gestaltet etc. Dann sprechen diejenigen, die eine Öffnung ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung in Richtung Heterosexualität erlebt haben, über die Frage von Partnerschaft, berichten davon, wie und wann sie ihrer Partnerin oder ihrem Partner von ihren Neigungen erzählt haben. Andere erzählen von Fragen, denen sie sich als Vater oder Mutter eines Kindes stellen mussten. Besonders ist zudem, dass es einige Zeugnisse gibt, in denen Menschen über eine Veränderung der sexuellen Orientierung reden und die Konflikte, die sie auf diesem Weg lösen mussten. Besonders ist auch, dass diese Geschichten kein typisches Happy End haben, sondern auch davon erzählen, dass Veränderung nicht heißt, nie mehr homosexuell zu fühlen. Besonders ist zudem, dass genau diese Geschichten neben solchen stehen, in denen sich Veränderung nicht ereignet hat.

Was für eine Bedeutung hat das Buch in unserer Zeit?

Derzeit erleben wir auch unter konservativen Christen eine Öffnung für homosexuelle Partnerschaften und die Segnung dieser Partnerschaften. Menschen, die eine solche Anerkennung und Segnung anstreben, berichten häufig, dass sie sich von der biblischen, konservativen oder kirchlichen Sexualmoral unterdrückt fühlen. Ja, dass sie sie krank macht. Die Menschen in diesem Buch sprechen dagegen davon, wie sehr ihnen das Festhalten an der traditionellen Lesart der Heiligen Schrift eine tiefe Annahme ihres Personseins vermittelte. Sie sprechen darüber, dass ihnen die überlieferte Sexualmoral hilft, ihre Sexualität zu verstehen. Wie sie in ihr Anleitung finden, ihr Leben nicht von ihren sexuellen Empfindungen her zu interpretieren, sondern von der Kindschaft, die Gott durch Jesus Christus schenkt. – Jedes Zeugnis unterstreicht die Bedeutung der Heiligen Schrift, anstatt sie durchzustreichen. Bedeutend dabei ist, dass hier Betroffene sprechen und ihre Sicht, ihren inneren Weg mit dem Wort Gottes offenlegen. Das Buch greift damit in die Speichen der derzeitigen Diskussion, in der nur diejenigen Gehör finden, die die Lehre der Kirche für überholt halten. Es fordert zu einem Stopp der politischen Einseitigkeit auf.

Bedeutung hat das Buch aber auch deshalb, weil die Menschen, die hier schreiben, die vielen Gesichter offenbaren, die sich unter dem Thema „Homosexualität“ sammeln. Wer die innerkirchliche Diskussion wahrnimmt, glaubt, dass es in der Rubrik „Homosexualität“ nur einen Typus gibt: Derjenige, der seine Homosexualität in einer treuen Partnerschaft leben will. Die Zeugnisse zeigen anderes: Es gibt Menschen, die ihre homosexuellen Gefühle als konflikthaft begründen. Die wenigsten verbinden damit in erster Linie einen moralischen Konflikt, sondern eher einen psychischen. Damit sagen sie nicht, dass Homosexualität per se etwas „Krankes“ sei. Sie sagen aber, dass sich mit ihrer sexuellen Orientierung ein Konflikt verbunden hat, und dass sie für die Lösung dieses Konfliktes die Hilfe der Seelsorge ersehnen. Mit dem Thema „Konflikt und Sexualität“ greifen die Zeugnisse ein Thema auf, das auch in den Sexualwissenschaften diskutiert wird. Dieser Diskussion entzieht sich aber die Kirche, indem dort von einer angeborenen Homosexualität gesprochen wird. Gerade diese Sichtweise ist aber am wenigsten haltbar, weshalb eine Öffnung der Diskussion dringend nötig ist.



Was meint ihre Aussage, dass „Konflikt und Sexualität“ in der Sexualwissenschaft anders diskutiert wird?

Es gibt einige bedeutende Sexualwissenschaftler und – therapeuten, die bemängeln, dass z.B. in der Sexualtherapie immer häufiger Begriffe aus dem Umfeld der LGBTQ-Bewegung aufgenommen werden, und dass daneben die diagnostischen, fachwissenschaftlichen Normen zurückgedrängt werden. Kritisiert wird, dass man sich dem Vorwurf der Homo- oder Transphobie dadurch entziehen wolle, dass man jede Form der sexuellen Äußerung eines Menschen gutheißt. Dabei wird nicht mehr gefragt, ob die Sexualität mit einem nicht-sexuellen, also psychischen Konflikt verbunden ist. – Gleiches macht die Kirche, wenn sie ihr Interesse allein darauf richtet, die Menschen in der Kirche willkommen zu heißen, die ihre sexuelle Orientierung ausleben wollen, und damit die Menschen aus dem Bewusstsein der Gemeinde drängt, die ihre Sexualität konflikthaft empfinden.

Letztlich unterstreicht das nochmals die Bedeutsamkeit des Buches. Mit dem Buch ist eine pastorale Herausforderung verbunden. Denn die vielen verschiedenartigen Zeugnisse sind eine Provokation für die derzeit gängige Pastoral. Die Frauen und Männer sagen, dass sie von Priestern, Pfarrern, Pastoren und Seelsorgern nicht in ihrem homosexuellen Erleben affirmativ unterstützt werden wollen. Sie wollen eine pastorale Begleitung, die ihrem Erleben glaubt und die Konflikte ernst nimmt. Zudem wünschen sie sich eine Person, die danach fragt, wie die Beziehung zu Christus, wie die Sakramente und wie theologische Ermutigung den Weg der Bewältigung von Konflikten oder den Weg der Enthaltsamkeit unterstützen können.

Ist das Buch nur etwas für Betroffene, bzw. was kann ein Ottonormal-Leser über die Integration von Sexualität im Buch erfahren oder entdecken?

Das Buch ist nicht nur etwas für Betroffene. Es ist auch etwas für Menschen, die in anderen Bereichen der Sexualität Konflikte empfinden. Gerade sie können in diesem Buch Menschen finden, die solchen Konflikten eine Sprache geben. D.h., das Buch kann alle Menschen, die ihre Sexualität verstehen wollen, dabei unterstützen, für das, was sie in sich erleben, Worte zu finden.

Das Buch ist darüber hinaus etwas für jeden Menschen, der vor Fragen zu seinem Frau- und Mannsein steht. Auch wenn im Buch oft über Sexualität geredet wird, so gleicht der Grund für diesen Konflikt anderen psychischen Konfliktlagen. Die meisten psychischen Konflikte haben ihren Ursprung im Erleben von Bindung, Selbstsein oder Autonomie und der Exploration bzw. dem Erproben eigener Gaben. Die Entwicklung psychisch gesunden Lebens hängt – vereinfacht gesprochen – an dem gelingenden Ineinander dieser drei Begriffe. So braucht der Mensch Bindung als sichere Basis, um die Welt entdecken zu können. Kann er die Welt und damit seine Gaben entwickeln, dann entsteht in ihm zunehmend die Wahrnehmung eigener Autonomie. Gleichzeitig kann der Mensch aber nur autonom sein, wenn er Bindung hat. Augenscheinlich wird das Zusammenspiel vor allem in der Kindheit. Ein Kind will die Welt entdecken. Trifft es bei dieser Weltentdeckung aber auf etwas, das erschreckend wirkt oder das Kind überfordert, dann eilt es in die Sicherheit gebende Bindung zurück. Dort erfährt es die Regulation seines Schreckens und Ermutigung oder Hilfe bei der Bewältigung der Hindernisse. Damit wird die Grundlage zu einer gesunden und doch zugleich bezogenen Autonomie gelegt.

Erlebt ein Mensch dies nicht, dann kann das verschiedene Folgen haben. Menschen, die Bindung nicht als haltgebend empfinden, entwickeln z.B. Bindungsängste. Haben also Angst, andere zu verlieren, versuchen, sie zu kontrollieren oder klammern sich an sie. Andere, die zu viel Bindung erleben, können sich in ihrer Autonomie bedroht oder gegängelt fühlen und streben daher nach Distanz zu anderen Menschen, werden abweisend etc. Wieder andere, die nicht zu Exploration und zur Entwicklung von Gaben ermutigt werden, neigen zu Minderwertigkeit, trauen sich nichts zu und sind daher antrieblos. Wenn man die Zeugnisse genau liest, dann sind dies einige der Grundkonflikte, die die Menschen bearbeitet haben. In diesen Konflikten ist aber nicht die Sexualität an sich das Problem, sie ist oft nur ein Symptom, mit dem man versucht, auf illusorischem Weg eine Trennungsangst, einen Selbstwertkonflikt oder die bedrohte Autonomie zu bewältigen. Andere Menschen wählen nicht die Sexualität als Lösung, sie neigen vielleicht eher zu Depressionen, Zwängen, Ängsten oder Süchten. Letztlich ist aber der Konflikt bei allen ähnlich strukturiert. Und daher sind die Lösungen, von denen die Menschen im Buch erzählen, etwas für alle Menschen, die einen ähnlichen Konflikt im Dreieck von Bindung, Autonomie und Exploration haben.


Besteht nicht die Gefahr, dass Lebenszeugnisse nicht eher idealisierende Darstellungen des Lebens sind?

Die Gefahr besteht immer. Vor allem dann, wenn man versucht, das Erzählen des eigenen Lebens auf einen idealen Endzustand hinzuführen. In der Biografieforschung kennt man diese Art der lebensgeschichtlichen Erzählung. Meist sind dies rückwärtsgewandte Erzählungen, die oft auch einen selbstrechtfertigenden Charakter haben.

Die Zeugnisse im Buch folgen aber nicht diesem Prinzip. Das kann man vor allem dort erkennen, wo Menschen anzeigen, dass für sie die Zukunft offen ist. Oder wo Menschen davon berichten, dass sie heute zwar mehr heterosexuell als früher empfinden, die homosexuellen Gefühle aber nicht gänzlich verschwunden sind. Diese Zeugnisse verweisen auf eine Bewegung, der beinahe jede Erzählung folgt. Es ist die Bewegung der Suche nach dem Verstehen der eigenen Person oder dem Verstehenwollen der eigenen Gefühle oder sexuellen Sehnsüchte. Insofern schauen die Zeugnisse nicht von der Gegenwart zurück, sondern wollen den Leser mit in die Suche, in das Ringen um eigenes Selbst-Verstehen hineinnehmen. So lesen wir von Menschen, die ihre Abhängigkeit von anderen ergründen wollen, ihre Ängstlichkeit, ihre Abwehr gegenüber bestimmten Personen, ihre Sucht oder ihren Fetisch. Oder sie wollen sich in der Frage von Vaterschaft oder Mutterschaft verstehen oder als Menschen, die sich nun aufmachen, um die Beziehung zu einem gegengeschlechtlichen Partner einzugehen.

Das Thema der „Suche“ ist nicht nur dort zu finden, wo Menschen sich und ihre Emotionen und ihr Erleben verstehen wollen, sondern auch dort, wo sie ihre Beziehung zu Gott definieren müssen. Indirekt oder direkt arbeiten sich die Zeugnisse immer wieder an der Frage von Gottesbeziehung und Schicksal ab: Warum hat Gott zugelassen, dass ich so fühle, warum hat er mir dieses Leben zugemutet und kein anderes, oder warum musste ich ein Trauma, einen Missbrauch erleiden? – In dieser Auseinandersetzung leuchtet immer wieder die Frage auf: Wer wäre ich gewesen, wenn mein Leben anders gelaufen wäre – oder – wie kann ich mich als Kind Gottes verstehen, wo ich in meinem Leben doch immer wieder Brüche erlebe, emotionale Abstürze, Süchte, Krisen etc. Hinter all diesen Fragen ist die Suche nach einem Verstehen des eigenen Lebens zu erkennen, das vor allem dann nicht einfach ist, wenn Verletzungen, Hemmungen, Scham, Beziehungsängste etc. die freie Lebensentfaltung ausbremsen. Aufgrund dieser Erfahrungen ist es den Erzählern im Buch nicht möglich, sich als Christen zu beschreiben, die einen idealen christlichen Weg gehen, oder die davon erzählen, wie sie Gottes Ebenbildlichkeit in ihrem Leben mit Leichtigkeit umsetzen.

Rechnet man diese verschiedenen Suchbewegungen zusammen, dann wird verständlich, dass die Zeugnisse keine idealisierenden Darstellungen sind. Vielleicht erhoffen sich das viele Leserinnen und Leser. Aber gerade die Suche, das Ringen um das eigene Verstehen und das eigene christliche Selbstverständnis machen das Buch spannend. Und um gerade diese Spannung zu steigern, sind wir froh, dass in diesem Buch kaum ein Zeugnis zu lesen ist, das mit dem Ritt in den Sonnenuntergang endet.


Im Untertitel des Buches werden neben dem Begriff „Homosexualität“ auch „Wandlungen“ und „Identität“ erwähnt. Wenn ich nun aber recht verstanden habe, trifft der Leser in diesem Buch vor allem auf Menschen, die auf der „Suche“ oder die mit ihren Lebensfragen unterwegs sind. Wie passt das Wort „Wandlungen“ und „Identität“ zu ihrer Aussage?

Um auf diese Frage zu antworten muss ich zunächst den Begriff „Identität“ kritisch beleuchten. In der Psychologie hat sich ein Verständnis von Identität durchgesetzt, mit dem viele das Einssein mit sich oder eine dauerharfte Einheitlichkeit verbinden. Andere Konzepte sprechen eher von Vollständigkeit oder Ganzheit. Die Konzepte vermitteln ein Verstehen von Identität als etwas, das der Mensch zu erreichen hat. Beide Konzepte übersehen aber, dass Identität nie etwas Abgeschlossenes sein kann. Deutlich wird das, wenn man versteht, dass eine ideale Identität bei einem Menschen nur dann vorliegen kann, wenn er auf alle Möglichkeiten, die ihm sein Leben geboten hat, eingehen konnte. Das trifft aber auf kein einziges Leben zu. Denn der Mensch kann im Laufe seiner Entwicklung nie auf alle Möglichkeiten eingehen. Er muss sich ständig zwischen den vielen Möglichkeiten für einige wenige entscheiden. Gleichfalls wäre es fatal, Identität als einen im Leben zu erreichenden Ideal-Zustand zu verstehen. Das würde bedeuten, dass es in diesem Leben keine offene Frage mehr gibt. Unter einem solchen Identitätsbegriff wäre das Leben eingefroren oder würde auf eine Selbstgenügsamkeit reduziert. Auch wenn ich das hier nur knapp andeuten kann, wird vielleicht klar: Identität ist ein idealistisches Konzept.

Für den Menschen trifft eher zu, dass das Leben fragmentarisch bleibt. Ein Fragment gibt es auf zweierlei Arten: Besucht man z.B. einen antiken Ausgrabungsort, dann findet man dort Fragmente von Gebäuden, deren Vollständigkeit und Schönheit nur noch geahnt werden kann. Fragmente gibt es dann aber auch in der Kunst. So spricht man von einem unvollendeten Kunstwerk als Fragment. Das Fragment deutet damit auf eine Zukunft, die noch nicht erschlossen ist.

Dieser Hintergrund ist nun wichtig, um den Identitätsbegriff, wie er im Buch eigentlich gemeint ist, zu verstehen. So zeigt sich in allen Zeugnissen etwas Fragmentarisches, das Hinweis auf etwas in der Vergangenheit Verletztes oder Zerbrochenes ist. Das lesen wir dort, wo die Autorinnen und Autoren von ihren Verletzungen, Brüchen, Bindungsverlusten und erlittenen Traumata berichten. In der oben bereits beschriebenen Suche findet sich dann eher das Fragment als das noch nicht Vollendete, das nach seiner Zukunft sucht und danach Ausschau hält. Gerade aber, dass die Menschen die Fragmente der Vergangenheit annehmen oder versuchen, in ihr Leben zu integrieren, und dass sie auf der Suche nach Zukunft sind, von der sie nicht immer wissen, was sie bringen wird, oder dass sie sich auch eine Zukunft vorstellen können, in der sich z.B. keine heterosexuelle Ehe ereignet, ist ein Ausweis dafür, dass sie Identität ganz anders verstehen. Gleichzeitig sprechen sie unter diesem Verständnis etwas an, das alle Menschen betrifft.

Ist aber nicht gerade dort etwas von der „Identität“ dieser Menschen zu erkennen, wo sie sich im Buch immer wieder als „Kind Gottes“, als „Sohn oder Tochter Gottes“ verstehen?

Das ist der entscheidende Punkt. Nimmt man das biblische Zeugnis beim Wort, dann folgt das Sein als „Kind Gottes“ einem ganz anderen Konzept von Identität. Am besten ist dies am Leben Jesu in Kreuzigung und Auferstehung zu erkennen. So begegnen wir in Philipper 2 einer Art „Identitätskritik“. Der psychologische Identitätsbegriff geht ja davon aus, dass der Mensch sich auf eine bestimmte Vollständigkeit hin entwickeln kann. Christus aber unterläuft diesen Identitätsbegriff in Philipper 2 insofern, als wir dort nach Luther lesen, dass er es nicht für einen „Raub“ hielt, Gott gleich zu sein. Übertragen in unsere Sprache heißt das so viel: Jesus wollte die Gleichheit seiner Person mit Gott nicht einfach individualistisch im Sinne einer Selbstverwirklichung an sich reißen. Vielmehr wurde er Fleisch und nahm die Natur des Menschen an und wurde darin der Knecht Gottes durch Erniedrigung. Zu seiner Identität, wenn man so sagen will, also zu dem, was er in Vollendung ist, kam er nur durch Gott den Vater selbst, der ihm einen Namen gegeben hat, der über allen Namen ist.

Insofern zeigt uns Jesus damit in Kreuz und Auferstehung etwas von der Identität, wie sie dem biblischen Menschenbild eher entspricht. Das irdische Leben erleben wir als Fragment. Schauen wir zurück, dann blicken wir eben nicht nur auf Gelungenes, sondern auch auf Verfehlungen, auf Sünde, auf Zerbruch. All dies zeigt an, dass nicht alles gelungen ist, dass unser Leben nicht rund ist. Gleichzeitig schauen wir als Christen nach vorn, und dieses Nach-Vorn-Schauen, so Paulus im Brief an die Galater in Kapitel 5 Ende, leben wir als einen beständigen Akt, wo wir unsere Leben mit Christus kreuzigen. Denn wir Menschen sind unvollkommen, schwach und brauchen immer wieder Umkehr und die Gnade Gottes. Letztlich kann der Christ daher sein Leben nur immer wieder in die Arme Gottes werfen. Wie Christus und mit ihm kann er immer wieder nur beten: Nicht wie ich will, sondern wie du willst. Und wie Christus findet er seine Erfüllung nur von dem her, der wahrhaft vom Ende her auf unser Leben blickt.

Genau diesen Weg bezeugen die Autorinnen und Autoren im Buch immer wieder. Sie haben erkannt, dass die Fragen des Lebens nicht durch eine bestimmte erotische Beziehung gelöst werden können. Sie wissen aber auch nicht immer, was aus ihrem Leben wird. Denn bei nicht wenigen versperrt eine grundsätzliche Angst, eine kaum zu überwindende Scham, ein Selbsthass oder eben auch ein bestimmtes, nicht-heterosexuelles Empfinden den Weg in das, was wir als gelingendes christliches Leben bezeichnen würden. Aber gerade indem sie versuchen, sich mit den Brüchen der Vergangenheit zu versöhnen, und indem sie sich offen, suchend einer Zukunft zuwenden und sich vielleicht sogar noch dazu bekennen, dass diese anders sein wird als bei anderen, leben sie die Identität der Gottes-Kindschaft. Und diese wirft sich in die Arme des Vaters, im Wissen, dass ihre Identität von dem kommt, der Himmel und Erde geschaffen hat.

So gesehen ist das Buch eine Hinterfragung unserer Vorstellungen von Identität. Und wer ehrlich ist, der weiß sich mit den Autorinnen und Autoren in einem Boot. Denn jeder blickt, der eine mehr, der andere weniger, auf ein Leben mit Brüchen zurück. Und jeder ist herausgefordert, auf ein Morgen zuzugehen, von dem er noch nicht weiß, ob er es gelingend bewältigen kann. Daher trägt das Buch zwischen den Zeilen eine wichtige Botschaft. Ich möchte sagen, eine frohe Botschaft: Vertrau auf Gott, was übersetzt werden muss mit der Aufforderung: Auch wenn dein Leben Brüche, Verletzungen, Sünde aufweist, kehre um in die Arme des Vaters, denn nur dort findest du deine wahre Identität. Man kann die Aufforderung auch mit dem Wort des Augustinus umschreiben: „Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“.


Dieser sehr besondere Blick auf Identität, aber auch die differenzierte Betrachtung kann ihrer Meinung also für viele Menschen spannend und hilfreich sein, die ehrlich über ihr eigenes Leben nachdenken. Denken sie, dass aber auch Seelsorger von dem Buch profitieren können?

Unbedingt! Wir haben auch schon von Seelsorgern, von Pfarrern und so weiter die Rückmeldung bekommen, dass sie von der Lektüre sehr profitiert haben. In dem Buch werden ja Lebenserfahrungen vieler unterschiedlicher Menschen genauso abgebildet, wie ihre eigene Reflexion und Deutung dieser Erfahrungen, Konsequenzen, die sich aus Entscheidungen ergeben haben, Gefühle die durchlebt wurden, Ursachen des Denkens über sich selbst und das Leben, Wege, die hilfreich waren, und solche, die weniger hilfreich waren etc. So geballt, so transparent und nachvollziehbar stellt sich das auch erfahrenen Seelsorgern oft nicht dar. Dabei ist das Buch natürlich keine Anleitung zu seelsorgerlichem Umgang, es bietet auch keine Schablonen, was also für Menschen typisch sein könnte, die nicht-heterosexuelle Gefühle haben. Vielmehr kann jeder Seelsorger in dem Buch dazu ermutigt werden, jeden Menschen individuell in den Blick zu nehmen, noch bessere, konkretere Fragen an Ratsuchende zu formulieren und auf allgemeine Vorstellungen über Sexualorientierungen in der Begegnung mit Betroffenen zu verzichten.

Und genau das ist auch eine wesentliche Absicht der Autorinnen und Autoren in dem Buch: dass die einzelnen Seelsorger in den Gemeinden, die Priester und Pfarrer und Pastoren, aber auch die Kirchen und die Gemeindeverbände insgesamt sich auf die Perspektive einlassen, dass das Leben eines Menschen, seine Identität und seine Sexualität etwas Geheimnisvolles, Hoch-Individuelles ist. Die Wahrheit dieses Geheimnisses erschließt sich aber nur dem, der sich auf die Suche macht, sein Leben im Licht Gottes zu verstehen. - Hier sind vereinfachende, verkürzende Botschaften völlig fehl am Platz. Die Frauen und Männer in dem Buch fragen zwischen den Zeilen eher zurück: Wenn ihr sagt, das sei angeboren; was bitte an dem, was ich da fühle oder wie es in meinem Inneren aussieht, soll denn angeboren sein? Und wenn ich zwischen heterosexuell und homosexuell schwanke, soll ich beides als angeboren begreifen, und wie lebe ich dann? Wenn ihr sagt, lebe das doch einfach aus; wollt ihr mich dazu ermutigen, weiter in Abhängigkeiten zu geraten, mich in der Sexualität demütigen zu lassen, etwas weiter zu leben, in dem ich keine Liebe erkennen kann? Und wenn ihr sagt, dass die sexuelle Orientierung sich nie verändern kann; wie soll ich es eurer Meinung nach deuten, wenn ich immer dann, wenn ich mich selbstbewusst und glücklich fühle, keine homosexuelle Anziehung bei mir feststellen kann? Und wie soll ich es deuten, dass ich mich inzwischen heterosexuell verliebt habe und mich diese Liebesbeziehung glücklich macht?