Gelingende Sexualität swap_horiz

In diesem Artikel wollen wir entlang dem Stichwort „gelingende Sexualität“ einen Einblick in einen theoretischen Aspekt der Grundlage unseres sexualpädagogischen Ansatzes bildet und der sich hier zunächst vor allem auf die Entwicklung heterosexueller Beziehungen richtet. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die hier beschriebene Theorie nur im Rahmen heterosexueller Partnerbeziehungen erforscht wurde.

Das Stichwort „gelingende Sexualität“ haben wir zunächst aus unserer nun beinahe zwanzigjährigen sexualberaterischen Praxis gefolgert. Denn dort sind wir auf heterosexuelle Menschen gestoßen, denen Sexualität nicht gelingt. Eine nicht-gelingende Form der Sexualität begegnet uns aber nicht nur in Geschichten von Menschen, die in ihrem Mann- oder Frausein vernachlässigt, zurückgewiesen oder traumatisiert wurden. Diese Form begegnet uns auch in der Sexualität vieler junger Menschen. So bestätigen Untersuchungen der Sexualität von heterosexuellen Jugendlichen, was wir in der Praxis beobachten: Junge Menschen, die vom Kind zur Frau oder zum Mann werden und sich dabei in einem bio-psychologischen Umbauprozess befinden, stehen oft in Gefahr, Sexualität zu instrumentalisieren. So reparieren manche ihr brüchiges Selbstbild durch Sexualität oder sie kompensieren ihre Beziehungsängste oder ihre Unsicherheiten, die sie Menschen des anderen Geschlechtes gegenüber haben1.

Da frühe Abwege oft zu störanfälligen Lebenswegen werden, haben wir uns daher gefragt, was Menschen können, denen Sexualität gelingt. Über diese Frage haben wir begonnen, einen Ansatz zu entwickeln, in dem Sexualpädagogik nicht nur auf den Aspekt von Aufklärung reduziert wird, sondern den ganzen Menschen im Blick hat: Seine biologische, seine emotional-psychische, seine soziale, aber auch seine moralische Entwicklung.

In einem umfassenden Forschungsansatz haben wir dabei aufdecken können, dass solche Menschen Sexualität in ihr Leben gelingend integrieren können, die über emotionale Reife und über sinnstiftende Deutungen verfügen. - In diesem Artikel will ich skizzieren, in welcher Weise emotionale Reife und sinnstiftende Deutungen zur Integration von Sexualität in heterosexuellen Beziehungen helfen. Mit dieser Darstellung soll zugleich angedeutet werden, dass es in der Sexualerziehung nicht (nur) um „Sexualität“ gehen, und dass die Vermittlung von sexuellen Sinnkonzepten nicht immer mit erhobenem Zeigefinger erfolgen muss.

Gelingende Sexualität

Was muss ein heterosexueller Mensch können, um Sexualität emotional reif in sein Leben zu integrieren? - Wenn ich diese Frage bei Veranstaltungen aufwerfe, dann ernte ich oft verständnislose Blicke. Denn Sexualität ist doch etwas, was jedem Menschen im Laufe seiner Entwicklung automatisch zuwächst. Das ist doch nichts, was integriert werden muss. Das mag zwar für die biologische Seite der Sexualität stimmen, nicht aber für ihre psychische Dimension. Denn Sexualität ist störanfällig. Das wird dann klar, wenn man sich bewusst macht, dass in der Sexualität verschiedene Motive aufeinander treffen: Das Fortpflanzungsmotiv, das Beziehungsmotiv und das Lustmotiv2 .

Übersetzt in den Alltag von Ehe, sehen wir dort oft, wie das Lustmotiv gegen das Beziehungsmotiv streitet. So braucht eine Frau eine geklärte Beziehung, um sich der Lust auf Sexualität zu öffnen, und ein Mann benutzt oft die sexuelle Lust, um sich zu erklären, dass in der Beziehung alles in Ordnung ist. Noch mehr tritt uns die psychische Dynamik zwischen Fruchtbarkeit, Lust und Beziehung dort entgegen, wo Menschen Beziehungsängste haben - vielleicht, weil sie Menschen generell nicht vertrauen können, oder weil sie den anderen nur als jemanden denken können, der ihre Grenzen verletzt oder ihr Personsein missachtet. In solchen Fällen wird Sexualität kompliziert und nicht selten zu einem Ort, an dem sich ein Paar verletzt, oder der Rückzug aus der ehelichen Sexualität beginnt. Dieser endet dann nicht selten in sexuellen Phantasien und Illusionen, in denen das zu lösen versucht wird, was in der Beziehung nicht gelöst werden kann3 .

Was sich hier andeutet, ist zweierlei: Sexualität wächst dem Menschen trotz aller Biologie nicht einfach zu. Und: Sexualität scheint dem Menschen dann am ehesten zu gelingen, wenn er über eine gewisse psychische Stabilität verfügt. Will man in der sexualpädagogischen Arbeit dem Menschen zur gelingenden Integration von Sexualität helfen, dann ist zu klären, wie eine solche psychische Stabilität im Menschen beschaffen sein muss.

Ein einfacher Fall

Um das Phänomen der psychischen Stabilität als Voraussetzung gelingender Sexualität Menschen nahezubringen, benutze ich in Vorträgen oft ein einfaches Beispiel: Es ist eine alltägliche Szene. Ein Mann und eine Frau teilen Sexualität miteinander. Nach einem liebevollen Vorspiel kommt es zur Vereinigung, in der beide zu ihrem Höhepunkt finden; die Frau etwas später als der Mann. Schließlich halten sich beide noch im Arm, jedoch schläft der Mann früher ein als die Frau.

Zu diesem einfachen Fall stelle ich immer folgende Frage: Was sind die Voraussetzungen, damit die Frau - die in der Szene zunächst allein wachliegend zurückbleibt - die erlebte Sexualität als gelingend definieren kann? Die Antworten darauf sind oft verblüffend. So gehen die meisten Zuhörer davon aus, dass die Frau die Situation unmöglich als gelingend interpretieren kann. Denn sie ist - typischerweise - ja mal wieder von ihrem Mann nur benutzt worden, was daran festgemacht wird, dass der Mann einfach eingeschlafen ist und die Frau sich selbst überlassen hat.

Diese Antwort zeigt an, was gelingende Sexualität eben gerade nicht ist. Sexualität kann dann nicht gelingen, wenn wir dem anderen etwas unterstellen. Sie kann aber dort gelingen, wo sich die Frau beim Mann gefunden weiß, was nur dann gelingt, wenn zwischen beiden ein tiefes Verstehen existiert.

Das aber ist ein großer Satz, den der Mensch nur dann leben kann, wenn er sich in der genannten Situation die Begegnung mit seinem Partner zu übersetzen weiß. So muss es der Frau in der beschriebenen Situation gelingen, die Absicht ihres Mannes zu lesen. Das aber kann sie nur, wenn sie sich in ihn einfühlen kann und weiß, dass er sie nicht für seine Lust ausgebeutet hat, sondern liebt. Mehr noch: sie muss, um ihm zu vertrauen, sich in seine Perspektive ganz und gar hineinversetzen können. Wenn sie in dieser Perspektivübernahme dann an den Punkt gelangt, an dem sie in Berührung kommt mit dem liebenden Blick ihres Mannes, der sich viele Vorwürfe dann machen würde, degradierte er seine Frau zum Objekt seiner Lust, dann kann sie in sich Vertrauen herstellen.

Und selbst wenn sich bei dieser Einfühlung ein Zweifel einstellen würde, müsste das Vertrauen der Frau noch nicht dahin sein. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sie wach liegend weiß, dass sie ihre Gefühle in der Beziehung offen ansprechen kann, und dass sie sich nicht von ihren emotionalen Zweifeln hinwegreißen lassen muss.

Sexualität und psychische Reife 

So ausgelegt deutet sich an: Gelingende Sexualität beruht auf einer großen innerpsychischen Reife, durch die begründetes Vertrauen in das sexuelle und erotische Handeln des anderen aufgebaut werden kann. Gelingen bedeutet aber nicht nur den Aufbau von Vertrauen, sondern ist vielmehr eine psychische Fähigkeit, durch die eine Person ihre Fragen, Zweifel, Gefühle und Infragestellungen selbstbewusst in die Beziehung einbringen kann, bei gleichzeitiger Achtung der Perspektive des anderen.

Der Sexualtherapeut David Schnarch bezeichnet diese Fähigkeit als Differenzierung des Selbst4. So stellt er fest, dass die Menschen am wenigstens Probleme im Bereich der Sexualität haben, die über die Fähigkeit zur Beziehung und zur Autonomie verfügen und die emotional schwierige Situationen durchhalten und ausbalancieren können.

Damit definiert er vier Fähigkeiten, über die ein Mensch verfügen sollte:

  • Die erste nennt er die Fähigkeit zur „Beziehung“. Sie umfasst die Kraft und die Sicherheit, sich einem Du hingebend anvertrauen zu können, sich dessen Bedürfnissen öffnen zu können, ohne sich dabei selbst ganz und gar aufgeben zu müssen.
  • Die zweite Fähigkeit bezeichnet er als „Autonomie“. Mit ihr kann der Menschseinen Selbststand bewahren und seine Bedürfnisse vertreten, ohne die Bedürfnisse oder die Person des anderen abwehren zu müssen.
  • Auf der Ebene der „Emotion“ verfügt ein Mensch mit Selbstdifferenzierung über die Fähigkeit, seine Gefühle zulassen zu können, ohne sich aber von ihnen hinwegreißen lassen zu müssen.
  • Daneben ist es ihm aber auch rational möglich, unangenehme Situationen auszuhalten, ohne dabei seine Gefühle ganz und gar unterdrücken zu müssen.

Wer entlang dieser vier Aspekte verschiedene Szenarien von Sexualität in Paarbeziehungen durchgeht, kann erkennen, dass hier Fähigkeiten genannt sind, die dem Menschen tatsächlich helfen, seine sexuellen Wünsche und Sehnsüchte immer wieder neu in eine Beziehung, aber auch in seine Person zu integrieren.

Das wollen wir uns noch einmal anhand eines Falles vor Augen führen. - Da ist ein Paar, das beschlossen hat, die eheliche Sexualität dem Rhythmus des natürlichen Zyklus der Frau anzupassen. Zudem hat das Paar vor wenigen Monaten ein Kind entbunden, sodass derzeit keine Schwangerschaft vorgesehen ist. In dieser Paarbeziehung brauchen beide die Fähigkeit zur Balance von Emotionen und Frustrationen - vor allem dann, wenn der Mann den Wunsch äußert, Sexualität teilen zu wollen, die Frau aber mitteilt, dass der Rhythmus des Zyklus dies derzeit nicht erlaubt. In dieser Situation braucht der Mann die Fähigkeit, mit der unangenehmen Situation des Verzichts umzugehen, auf der anderen Seite muss ihm zugänglich sein, dass er als Person mitsamt seinem Bedürfnis ok ist. Die Frau dagegen muss wissen, dass sie sich vom Wunsch des Mannes nicht unter Druck setzen lassen muss, sondern dass sie ein Recht auf ihre Grenzsetzung hat, ohne dass dadurch die Beziehung gefährdet wird. Der Mann seinerseits muss nun die Fähigkeit haben, sich mit der Frustration seiner Frau anzuvertrauen, bei gleichzeitiger Fähigkeit, die Grenze seiner Frau zu achten etc.

Allein dieses Beispiel belegt, dass zur Integration von Sexualität eine hohe psychische Befähigung gehört. - Diese erwirbt ein Mensch aber nicht erst in der Ehe, diese muss er mitbringen. Mehr noch: Um über die Fähigkeit zur Differenzierung des Selbst zu verfügen, muss ein Mensch viele gesunde psychische Funktionen ausgebildet haben. Deshalb gilt für eine Sexualpädagogik, die dem Menschen zu einer gelingenden Integration der Sexualität in seine Gesamtpersönlichkeit helfen will, dass sie den Zusammenhang von psychischer Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen und den Aufbau der Fähigkeit zur Differenzierung des Selbst, mitsamt der Entwicklung von Sexualität, herausgearbeitet haben muss. - Dies ist mit einer großen wissenschaftlichen Anstrengung verbunden, vor der wir uns aber im Zuge der Erarbeitung und Gestaltung der „entwicklungssensiblen Sexualpädagogik“ nicht scheuen - auch wenn sie viel Zeit in Anspruch nimmt.

Sexualität und Sinn

Bedenkt man das, was als Differenzierung des Selbst beschrieben wurde, so fällt auf, dass es sich hier nicht nur um eine psychische, sondern auch um eine sinnstiftende Befähigung des Menschen handelt. So begegnen uns in der Praxis viele Menschen, die über ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz verfügen. Sie sind auch in einem hohen Maß sozial und können sich in Menschen einfühlen. Aber im Bereich der Sexualität versuchen sie, „auf ihre Kosten“ zu kommen. So als ob die psychische Fähigkeit der Einfühlung in Momenten von Lust und Sexualität abgeschaltet werden und durch blanken Egoismus ersetzt würde. - Die Fähigkeit, die sie in der einen Situation zur Einfühlung in einen Menschen veranlasst, und die in einer anderen Situation zum Egoismus führt, ist aber die Fähigkeit, sinnstiftende Entscheidungen zu fällen.

Die sinnstiftende Fähigkeit wächst dem Menschen aber nicht durch die Emotionen zu, sondern durch den Prozess des Denkens und Verstehens. Das hat etwas mit dem zu tun, was man Vernunft nennt. Sie ist es, die im Moment einer sexuellen Alltagssituation der innerpsychischen Fähigkeit der Einfühlung oder der Frustrationstoleranz wie ein Souffleur zu Seite stehen muss. Sie ist es, die die Einfühlung dazu bringen muss, sich in den anderen und sein Befinden hineinzuversetzen. Und sie ist es, die der Frustrationstoleranz Durchhaltewillen einflößt, da sonst die Beziehung in Gefahr ist, oder der andere in seiner Person verletzt wird.

So liegt auf der Hand, dass es in der Sexualpädagogik nicht nur um die Förderung bestimmter psychischer Fähigkeiten im jungen Menschen gehen kann; es muss auch die Vernunft mit Informationen über gelingende Sexualität versorgt werden.

Die personalistische Norm

Dazu greifen wir in unserer Sexualpädagogik auf die sogenannte „personalistische Norm“ zurück. Sie wurde von Karol Wojtyła (5) aus der Frage entwickelt, wie in der Sexualität von zwei Menschen vermieden werden kann, dass der eine den anderen zur Befriedigung seiner Lust „gebraucht“?

Da wir alle sexuelle Wesen sind, ist es leicht nachvollziehbar, dass diese Frage schwer zu beantworten ist. Denn geschieht es nicht in der liebevollsten sexuellen Beziehung zwischen Frau und Mann, dass der eine durch den anderen zur Befriedigung kommt? Und gebrauchen wir uns dabei nicht immer zur Befriedigung unserer Lust?

Wojtyła entgegnet dieser Annahme und behauptet nun, dies müsse nicht so sein, und dies dürfe nicht so sein. Denn die Würde einer Person bestehe darin, dass sie ihre eigene Innerlichkeit habe. Damit meint er, dass jede Person über ihre Ziele selbst bestimmen darf. Wer daher eine Person zur Befriedigung seiner Lust gebraucht, der verletzt das Recht ihrer Selbstbestimmung und Innerlichkeit und degradiert sie zu einem Gebrauchsobjekt und Gegenstand (vgl. LV 43). Als Lösung schlägt er die sogenannte personalistische Norm vor. Diese besagt, dass man bei jeder Handlung mit einer Person, deren höchstes Gut zu seinem eigenen höchsten Gut machen muss. Nur auf diese Weise würde vermieden, dass man eine Person zum Objekt des Gebrauchs macht.

Dein höchstes Ziel

Das heißt dann, wenn der Mann im Akt der Sexualität sein höchstes Ziel ganz und gar auf das höchste Gut der Frau richtet und alles danach ausrichtet, sie in ihrem Frausein zu ehren und zu würdigen, und alle Anstrengung unternimmt, um ihren Bedürfnissen zu begegnen, und wenn die Frau umgekehrt dasselbe gegenüber dem Mann tut, dann geraten die Partner nicht in Gefahr, den anderen zum Objekt des Gebrauchs zu machen.

Das ist ein großer Anspruch, der uns schon vor die nächste Frage stellt: Wie soll ein Mensch dazu befähigt werden? Aus der philosophischen Analyse „Liebe und Verantwortung“ von Wojtyła kann indirekt ein vernunftgeleiteter Prozess der Entwicklung einer solchen Liebe abgeleitet werden. Lernt der Mensch die Meilensteine des Weges vernünftig auf die Entwicklung seiner Liebe zu einer Person anzuwenden, dann - so Wojtyła - bildet er ein feines Gespür für wahre Liebe aus und baut gleichzeitig eine kritische Wahrnehmung für die Versuchung auf, den anderen zu gebrauchen.

Das Phänomen der Liebe

Der erste Schritt auf dem Weg ist, dass der Mensch die Sinnlichkeit und das Begehren verstehen muss, das sich einstellt, wenn er sich in eine Person verliebt. Dieser Anfang jeder Liebe, der zunächst mit dem Gefühl des Verliebtseins einhergeht, ist am anfälligsten für das Gebrauchen eines Menschen. Denn was uns zum Verlieben bringt, ist zunächst etwas Äußeres. So finden wir einen Menschen attraktiv. Diese Attraktivität kann sich an etwas Körperlichem festmachen. Sie kann sich aber auch schon auf etwas beziehen, das der Mensch in mir auslöst. Oft sind das Hoffnung, Ideale, die noch sehr im Illusionären liegen. Bereits in diesem Stadium gilt es zu prüfen: Begehre ich einen Menschen, weil er mich von etwas erlösen soll? Erhoffe ich von der Person die Reparation meines Egos? Oder drängen die Sinnlichkeit und das Begehren mich hin zur Innerlichkeit, die mir im Geheimnis dieser Person entgegenkommt? - Wie dem auch sei: Letztlich hält in diesen Sätzen die Vernunft den Menschen auf der einen Seite an, zu seinen Gefühlen gegenüber einer Person ja zu sagen; auf der anderen Seite soll er sich aber auch hinsichtlich seiner eigenen Motive prüfen.

Das Wohlgefallen in der Liebe

Den zweiten Meilenstein auf dem Weg zur Liebe nennt Wojtyła „Wohlgefallen“. Das Wohlgefallen stellt sich meist ein, wenn man den Moment der Sinnlichkeit und des Begehrens überschreitet. Jetzt fällt auf, dass einem etwas an der Person „wohl-gefällt“. Dies kann mannigfach sein: Es kann die Art sein, wie eine Person mit mir umgeht. Es kann das Personsein des Menschen sein, das mir aufrecht, zielstrebig, begabt oder interessant erscheint. Es kann ein Charakterzug sein, der mich bei der Person anspricht etc. Auch in dieser Situation ist die Gefahr, dass ich das Wohlgefallen am anderen für meine eigenen Bedürfnisse und Sehnsüchte gebrauche, nicht überwunden. Der Verliebte sieht nun zwar klarer und schärfer, was ihm an der Person gefällt. Die Vernunft hält ihn aber auch schon hier zur Frage an: „Willst du den Menschen um seiner Selbst willen anerkennen? Oder willst du den Menschen für deine Absichten verzwecken? Spricht dich das, was dir gefällt, aus der Innerlichkeit des Menschen an? Oder bist du gar nicht interessiert an der Innerlichkeit des anderen und siehst den anderen und seine guten Charakterzüge nur als Schmuck für deine Person?“

Das Wohlwollen in der Liebe

Ist der Mensch an der wahren Innerlichkeit der Person interessiert, dann soll er in Richtung des dritten Meilensteins aufbrechen. Dort begegnet ihm das Wohlwollen mit der Frage: Willst du dem, was dir an Innerlichkeit, an Charakter in der Person, an Gabe, an Kreativität, an Einmaligkeit, an Schönheit in der Person begegnet, wohl oder nicht? D.h., liebst du diesen Menschen so, dass du dich für seine Innerlichkeit und für sein Wohl einsetzen willst? - Jetzt erst, sagt Wojtyła, überschreitet der Mensch im Prozess der Entfaltung von Liebe, die Grenze zur personalen Liebe. Denn mit dem Schritt hinein in das Wohlwollen, entscheidet sich der Mensch für die Person und ihre Innerlichkeit. Im Unterschied zur Sinnlichkeit und zum Begehren, will ich im Wohlwollen nichts für mich. Im Wohlwollen will ich etwas für den anderen. Ich will, dass es ihm „gut“ geht. Aber auch in dieser Stufe der Entfaltung von Liebe, darf sich der Mensch, ja muss er sich fragen: Ist in mir tatsächlich „Wohlwollen“ oder mache ich mir nur etwas vor, weil in Wirklichkeit die Illusion des Begehrens meine Haltung lenkt?

Vielleicht kann ein Mensch das aber erst dann so recht empfinden, wenn er wahrnimmt, dass in ihm eine „uneigennützige Eigennützigkeit“ entsteht. In ihr wird das Wohlgefallen bis zum Moment gesteigert, wo der Mensch sagt: Ich will dein Gut, weil es mir gut tut. In dieser Phase spüren zwei Personen, dass man nicht nur etwas für den anderen will, sondern, dass die andere Person ein GUT ist und mit ihrer Person ein GUT vertritt, durch das man selbst gesegnet, bereichert, erweitert, belebt und über seine eigenen persönlichen Grenzen hinausgeführt wird. Jetzt entsteht der Wunsch, dass man sich für dieses GUT einsetzen will. Letztlich will man sich für die ganze Person, die der andere ist, einsetzen. Durch die Faszination, die das GUT des anderen auslöst, ist man in dieser Phase ganz uneigennützig; letztlich ist man aber auch eigennützig. Denn man versucht, das GUT des anderen ja deshalb zu bewahren, weil man spürt, dass das eigene Leben dadurch in eine neue Dimension gelangt.

Die bräutliche Liebe

Allen Stufen spürt man ab, dass sie die personalistische Norm nicht ganz erfüllen. Noch hinkt der Mensch auf dem Weg der Liebe der Herausforderung hinterher, dass das GUT des anderen mein höchstes GUT wird, und dass mein GUT das höchste GUT des anderen wird. Das ändert sich aber in dem Augenblick, wo sich zwei Menschen in der bräutlichen Liebe der Ehe verbinden. Jetzt, so Wojtyła, wird der Anspruch der personalistischen Norm eingelöst. Denn jetzt verbinden sich zwei Personen „bis dass der Tod uns scheidet“. Es entsteht jetzt eine Gemeinschaft, in der durch den Bund beide Partner zur Erfüllung des je eigenen GUTES als PERSON kommen können. Denn durch das Sprechen der Frau, „heute nehme ich dich zu meinem Mann“, und durch das Sprechen des Mannes, „heute nehme ich dich zu meiner Frau“, wird eine Potenzialität in den Personen eröffnet, durch die sie die schöpferische Kraft ihres Frau- oder Mannseins in Mutterschaft und Vaterschaft ganz und gar zur Erfüllung bringen können. Vater aber wird ein Mann nur durch die Frau. Und Mutter wird eine Frau nur durch den Mann. So kann gesagt werden, dass durch die gegenseitige Hingabe zweier Menschen sich beide durch den anderen in ihrem GUT erfüllen können.

Personalistische Norm als Leitstern 

Sicher, die personalistische Norm bietet Leitsterne für das Wachstum wahrer Liebe. Die Leitsterne sind aber keine Illusionen - schon deshalb nicht, weil sie vernünftig sind und etwas sichtbar machen, was sich der Mensch durch seinen Verstand vor Augen stellen muss, wenn er in einer dauerhaften Beziehung Liebe und Sexualität gelingend integrieren will.

Gelingen kann das aber nur, wenn ein Mensch über die emotionale Fähigkeit verfügt, die im ersten Abschnitt als Differenzierung des Selbst skizziert wurde, und wenn er über vernünftige Einsichten verfügt, mittels derer er an seine Sexualität immer wieder die richtigen Fragen stellen kann. Denn will Sexualität gelingend in das Leben integriert werden, braucht der Mensch beides: Die Vernunft, ohne emotionale Beziehungsfähigkeit, ist wie ein Boot im Trockendock, das das Meer der Leidenschaft nicht kennt. Emotionale Beziehungsfähigkeit ohne Vernunft ist aber wie ein Schiff auf nächtlicher Fahrt, ohne einen Navigator, der aus den Sternen am Himmel den Weg zu lesen weiß.

Im Konzept der entwicklungssensiblen Sexualpädagogik nehmen wir uns der emotionalen Entwicklung an, wie dem ethischen Durchdringen von Liebe und Sexualität. Wir glauben, dass wir nur so dem Ziel gerecht werden können, Menschen bei der gelingenden Integration von Sexualität in die Gesamtpersönlichkeit zu begleiten.

  1. Cooper, M. Lynne; Shapiro, Cheryl M.; Powers, Anne M.: Motivations for Sex and Risky Sexual Behavior Among Adolescents and Adults: A Functional Perspective; Journal of Personality and Social Psychology, 1998, Vol. 75, No. 6. 1528-1558
  2. Beier, Klaus M. ; Loewit, Kurt K.: Praxisleitfaden Sexualmedizin : Von der Theorie zur Therapie. 2011. Aufl.. Berlin Heidelberg New York 2012
  3. Anmerkung: Das hier nur angedeutete Phänomen ist in verschiedenen Untersuchungen vielfach belegt: vgl. Doran, K., & Price, J. (2014). Pornography and marriage. Journal of Family and Economic Issues, 35, 489–498; Lam, C. B., & Chan, D. K.-S. (2007). The use of cyberpornography by young men in Hong Kong: Some psychosocial correlates. Archives of Sexual Behavior, 36, 588–598; Nelson, L. J., Padilla-Walker, L. M., & Carroll, J. S. (2010). ‘‘I believe it is wrong but I still do it’’: A comparison of religious young men who do versus do not use pornography. Psychology of Religion and Spirituality, 2, 136–147; Mitchell, Kimberly J.; Becker-Blease, Kathryn A.; Finkelhor, David; Inventory of Problematic Internet Experiences Encountered in Clinical Practice. Professional Psychology: Research and Practice, Vol 36(5), Oct 2005, 498-509; u.a.m.
  4. Schnarch, David Morris: Constructing the Sexual Crucible : An Integration of Sexual and Marital Therapy. Hamburg: Norton, 1991
  5. Wojtyła, Karol; Liebe und Verantwortung: eine ethische Studie; Kleinhain 2007 (2)